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Blogs von Julia

Ohne Abschied gehen lassen

Achtung, eine Warnung vorab:

Dieser Text vermittelt nicht Friede, Freude, Eierkuchen und es geht heute mal ausnahmsweise nicht um die heile Welt in unserem Angels Home. Stattdessen möchten wir euch anhand der jüngsten Geschehnisse im Kinderheim einmal aufzeigen, wie frustrierend und ungerecht es manchmal bei uns zugeht.

Wer also lieber lächelnde Kinder sehen und etwas über Spiel und Spaß lesen möchte, der wartet am besten bis zum nächsten Bericht.

Was ist passiert?

Nicht alle Spuren des Lebens verschwinden so schnell.Vor einigen Tagen sind 3 unserer ältesten Mädchen zum zweiten Mal über Nacht abgehauen. Während alle anderen wie auch das Personal in ihren Betten lagen und schliefen, packten die Drei einige Sachen zusammen und kletterten über unsere Außenmauer auf das Nachbargrundstück, welches unbewohnt ist und zur Straße führt. Bereits um 4 Uhr morgens fiel es anderen Mädchen auf, dass ein paar Heimbewohnerinnen fehlten und wir wurden umgehend informiert. Nächtliche Suchaktionen blieben erfolglos, sodass wir Polizei und Jugendamt einschalteten. Nach 2 Tagen wurden die Mädchen gefunden und auf der Polizeiwache in Marawila festgehalten, von wo aus sie dem Richter vorgeführt wurden. Wir erfuhren zum ersten Mal von einer Regelung, dass Kinder, die zweimal kurz hintereinander aus einer Einrichtung weglaufen, nicht länger dort untergebracht sein dürfen. Außerdem haben die Mädchen wohl ausgesagt, dass sie nicht mehr zurück ins Angels Home wollen (aus welchen Gründen auch immer). Deshalb entschied der Richter, dass 2 der Mädchen zurück zu ihren Angehörigen gehen sollten, während ein anderes Mädchen in ein Kinderheim nach Puttalam verlegt wurde. All dies wurde ohne unsere Mitsprache entschieden und wir hatten keine Möglichkeit, noch einmal mit den Mädchen zu sprechen. Auch Frank konnte trotz 3-stündiger Wartezeit beim Gericht nichts erreichen und in einem kurzen persönlichen Gespräch mit dem Richter, in dem Frank unserer Unzufriedenheit zum Ausdruck brachte, wurde er lediglich damit belehrt, dass es doch für Kinder immer das Beste sei, wenn sie wieder nach Hause gehen können. Die junge Dame, welche in eine andere Einrichtung geschickt wurde, lebte 10 Jahre bei uns im Angels Home. Ich muss euch nicht sagen, was das für uns bedeutet.

Warum?

Im Dezember hatten sich 2 der Mädchen jeweils in einen Jungen verschossen und seither stand ihre Welt ein wenig Kopf. Vernunft und Ehrlichkeit waren wie weggeblasen. Die beiden Jungs waren jeweils Brüder von 2 anderen Mädchen in unserem Kinderheim und hatten sich wohl bei einem der Besuchstage miteinander angefreundet, wo sie auch mit den Mädels ins Gespräch gekommen sind. Die Folgen waren heimliche Telefonanrufe, Briefchen und gelegentliches Auftauchen der Jungs auf dem Schulweg oder in Tempel und Kirche. In Deutschland würde man sagen „alles halb so schlimm“, aber hier in Sri Lanka ist es schier undenkbar, dass minderjährige Mädchen einen Freund haben, mit dem sie sich in der Öffentlichkeit zeigen. Im Januar flog schließlich auf, dass seit Ende Dezember ein unerlaubtes Mobiltelefon im Angels Home existierte, welches mehrere ältere Mädels abwechselnd versteckten und abends für heimliche Anrufe benutzen. Daraufhin gab es von unserer Seite kleinere Strafen wie Fernsehverbot, Extra-Gartenarbeit und zusätzliche Lerneinheiten. Außerdem redeten wir den Mädels natürlich ins Gewissen, denn abgesehen von der gesellschaftlichen Ächtung einer solchen Affäre, konnten die Jungs unseren Mädels weder optisch, noch intellektuell in irgendeiner Form das Wasser reichen – so empfanden wir das zumindest und wir wünschten uns einfach etwas Besseres für die Mädchen. Kurz nach dem ersten klärenden Gespräch sind die Mädchen das erste Mal weggelaufen. Da wir uns große Sorgen machten und sie nicht sofort ausfindig machen konnten, hatten wir auch hier schon die Polizei informiert. Wenige Stunden später fand man die Mädchen bei einem ihrer Väter und wir konnten sie auf der Wache abholen. Also wieder lange Gespräche, Erklärungen und Entschuldigungen seitens der Mädels. Doch der Kontakt mit den Jungs hörte nicht auf. Trotzdem kehrten wir irgendwann zur Normalität zurück, denn man will ja nicht nur ständig schlechte Stimmung und auferlegte Strafen im Heimalltag. Vor einigen Tagen fragten uns die älteren Mädchen um Erlaubnis, zu einem Kirchenfest am Strand zu gehen. Da wir jedoch wenig Personal im Heim hatten und keiner mitgehen konnte, sagten wir nein. In dieser Nacht hauten die Mädels dann erneut ab und später erfuhren wir, dass sie mit den Jungs auf dem Kirchenfest verabredet waren.

Wer ist Schuld?

Natürlich ist das eine rhetorische Frage, denn es gab sicherlich mehrere Faktoren, die unsere Mädchen zum Weglaufen bewegt haben. In erster Linie denken wir jedoch, dass die Pubertät einfach mit ihnen durchgegangen ist und sie sich gegenseitig zu diesem Unfug angestiftet haben. Vermutlich haben ihre Gefühle zu den Jungs erheblich zu ihrer Entscheidung beigetragen und es ist bedauerlich, dass sie für so ein kurzes Abenteuer ihren bevorstehenden Schulabschluss aufs Spiel setzen. Alle 3 Mädchen sind in der 10. Klasse und werden im Dezember ihre Abschlussprüfungen schreiben. Das Mädchen, welches fast 10 Jahre bei uns lebte, war schulisch eine unserer Hoffnungsträgerinnen und besuchte das katholische Mädchen-Convent in Marawila, eine Schule, auf die es leider nicht jeder schafft. Wir waren so stolz auf ihre Leistungen und ihre Entwicklung! Es ist unklar, welche Schule sie für die restlichen Monate in Puttalam besuchen wird.

Was ist so ungerecht?

In solchen Situationen spüren wir zunehmend, dass hier in Sri Lanka am gesamten System etwas nicht stimmt. Als Kinderheim haben wir kaum ein Mitspracherecht, was die Entscheidungen von Jugendamt, Gericht und Polizei betrifft. Bei Schuldzuweisungen sind sie hingegen schnell. Für die Behörden hier liegt klar auf der Hand, dass wir die Verantwortung für das Geschehene tragen. Eine der ersten Fragen seitens der Polizei war, weshalb wir die Mädchen nach dem ersten Weglauf-Versuch überhaupt wieder bei uns aufgenommen haben. Weil sowas in den besten Familien vorkommen kann? Weil wir nicht sofort aufgeben? Weil wir die Mädchen trotzdem schätzen und uns auch weiterhin für sie einsetzen möchten? Anstatt es anzuerkennen, dass wir sie trotz dieses Fehltritts weiterhin bei uns behalten wollten, macht man uns dies hinterher zum Vorwurf. Und als ob das noch nicht genug ist, flattert bereits wenige Tage nach der Entscheidung über den Verbleib der Mädchen eine gerichtliche Anordnung in unser Büro, nach der wir zukünftig die Kinder nachts in ihren Schlafzimmern einschließen sollen! Klar, weil das auch die Lösung aller Probleme ist. Bisher war nach dem Vorfall nicht eine Behörde mal hier bei uns im Kinderheim, um eventuell auch unsere Sichtweise der Dinge zu hören oder gar unsere Meinung mit in ihre Entscheidung einfließen zu lassen. Warum können 2 Mädchen ohne Weiteres wieder zurück zu ihren Angehörigen geschickt werden, wenn die Verhältnisse zuhause vorher so schlecht waren, dass sie in einem Kinderheim untergebracht werden mussten? Welchen pädagogischen Effekt hat das in Bezug auf ihr Verhalten? Fürs Weglaufen darf man zurück nach Hause? Prima, dann warten wir mal ab, wie viele Mädchen demnächst noch bei uns abhauen. Denn trotz unserer Gegebenheiten und der guten Betreuung im Angels Home bleibt Familie eben Familie und wenn unsere Mädchen die Wahl hätten, würden die meisten von ihnen lieber wieder nach Hause gehen als hier zu sein. Das ist Fakt und auch völlig verständlich. Umso wichtiger wäre es gewesen, dass man die Mädchen erst einmal zu uns zurückschickt, bevor voreilige Entscheidungen getroffen werden. Zumindest wäre es doch wohl unser gutes Recht gewesen, noch einmal mit den Mädchen zu sprechen, wovon wir eines immerhin 10 Jahre lang bei uns betreut und wie ein eigenes Kind behandelt haben. Aber was zählt schon die Meinung von 2 unwissenden Ausländern? Und wer legt schon Wert auf die Erfahrung von unserem Personal, welches die Kinder mitunter viel besser kennt als ihre eigenen Eltern?

Was können wir tun?

Bildung für Diejenigen, die es am nötigsten haben.Nichts, das ist ja das Schlimme! Immer mal wieder gibt es solche (wenn auch nicht immer so krasse) Situationen, in denen wir uns als Einrichtung schlichtweg benachteiligt, übergangen und unfair behandelt fühlen. Seit Jahren fragen wir die Ämter nach den Rechten für Kinderheime – leider ohne Erfolg. Wir empfinden es immer wieder so, dass sowohl die Eltern als auch die Kinder und sogar die Behörden hier jede Menge Rechte haben, aber wir als Einrichtung bleiben auf der Strecke. Wie kann es sein, dass Mütter, die jahrelang im Ausland gelebt und gearbeitet haben, nach ihrer Rückkehr zum Jugendamt gehen können und ohne Probleme ihr Kind aus einer Einrichtung abholen können? Im schlimmsten Fall bekommen wir nicht einmal vorher Bescheid, sondern die Angehörigen stehen plötzlich mit einem entsprechenden Schreiben vom Jugendamt bei uns am Tor und wollen ihr Kind, welches manchmal mehrere Jahre bei uns gelebt hat, sofort mitnehmen. Sind wir ein Hostel? Ein Internat? Dann sollen sie doch bitte schön finanziell etwas leisten, wenn wir ihre Kinder versorgen. Oder sie am besten gleich in eine entsprechende Einrichtung bringen. Wir erklären den Behörden kontinuierlich, dass wir in unserem Angels Home bevorzugt Kinder aus ärmlichen Verhältnissen aufnehmen möchten und nicht solche, deren Eltern mal grad keine Lust auf ihre Kinder haben, was in 1-2 Jahren aber schon wieder ganz anders aussehen kann. Natürlich – die Kinder können nichts dazu und aus welchen Gründen sie nun auch kommen, haben sie fast alle eine Berechtigung bei uns zu sein, weil sie zuhause schlichtweg unerwünscht sind. Trotzdem ist es nicht fair, dass durch solche Fehlentscheidungen anderen Mädchen die Chance auf eine jahrelange und kontinuierliche Schulbildung in unserem Angels Home verwehrt bleibt. Die Gründe für eine Heimunterbringung sind manchmal so unverständlich und banal in unseren Augen, dass man sich wirklich fragen muss, wer diese Entscheidungen trifft und in welcher Form dafür vielleicht auch bestochen wurde.

Warum dieser Bericht?

Es gibt immer mal wieder Themen, die mir in den Fingern jucken und die ich gerne öffentlich schreiben möchte. Aber vieles ist einfach zu sensibel und manches möchten unsere Interessenten vielleicht auch nicht lesen. Die Vorstellung, dass im Angels Home for Children in Sri Lanka eine kleine heile Welt für Kinder ist, in der mehr gelacht als geweint wird, ist einfach zu schön! Trotzdem gibt es leider auch hier Begebenheiten, die an dieser Welt kratzen und sie bedrohen. Und wir sind leider nach wie vor nur geduldete Gäste, die aufpassen müssen, wie sie mit solchen Bedrohungen umgehen, damit die kleine heile Welt weiterhin Bestand hat. Mit diesem Bericht möchte ich euch einen kleinen Einblick geben, wie wir uns manchmal fühlen und ich hoffe, damit niemanden vor den Kopf zu stoßen.

Traurige und nachdenkliche Grüße,

Julia.

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