Skip to main content

Blogs von Julia

Das Leben in einem Kinderheim

Eine Zeitreise ins Jahr 2004 und zurück

Shakina kommt heulend auf die Bühne, setzt sich auf den Fußboden und lässt ihren Tränen freien Lauf. Kurze Zeit später kommt Sujeewa und setzt sich zu ihr.

Sujeewa: „Hey, Shakina, Liebes, was ist denn los mit dir?“
Shakina: „Nichts...”
Sujeewa: „Ach, komm schon... Erzähl es mir! Vielleicht kann ich dir helfen! Hast du dich mit jemandem gestritten?“
Shakina: „Nein, ich bin nur traurig.”
Sujeewa: „Aber warum denn? Du kannst es mir ruhig sagen!”
Shakina: „Ich glaube, meine Mutter wird nicht zu unserer Weihnachtsfeier kommen, aber alle anderen Mütter kommen. Das macht mich so traurig!“
Sujeewa: „Warum denkst du denn, dass sie nicht kommen wird?”
Shakina: „Weil sie mich nicht mehr lieb hat. Deshalb hat sie mich auch hierher gebracht.”
Sujeewa: „Hm, ich verstehe...”
Shakina: „Ich glaube, dass sie meinen kleinen Bruder lieber hat als mich.”
Sujeewa: „Warum?”
Shakina: „Weil er zu Hause bleiben kann. Ihn haben sie nicht in ein Kinderheim gebracht.”
Sujeewa: „Was ist denn mit deinem Papa?”
Shakina: „Ich weiß nicht, ich kenne ihn gar nicht. Der neue Mann, mit dem meine Mama jetzt zusammen ist, sagt immer, dass er nicht mein Papa ist und mich deshalb auch nicht mag.”
Sujeewa: „Das ist wirklich sehr traurig, aber soll ich dir mal etwas verraten?”
Shakina: „Was denn?”
Sujeewa: „Meine Mama wird auch nicht zur Weihnachtsfeier kommen. Ich habe sie jetzt seit über einem Jahr nicht mehr gesehen. Zuerst hat sie mich zu meiner Großmutter gebracht und seitdem ich hier bin, hat sie mich nicht ein einziges Mal besucht.”
Shakina: „Oh...”
Sujeewa: „Aber weißt du, was das Gute ist? Wenn du sie eine Weile nicht gesehen hast, dann fängst du an, sie zu vergessen und dann tut es auch gar nicht mehr so weh.”
Shakina: „Wirklich? Aber ich möchte sie gar nicht vergessen... Sie ist doch meine Mutter!”
Sujeewa: „Ja, natürlich ist sie das und das wird sie auch immer bleiben. Aber ich denke, für manche Kinder ist es besser, wenn sie ohne ihre Mutter leben. Schau mich doch an! Es geht mir gut! Klar vermisse ich sie manchmal noch, aber es wird besser mit der Zeit. Mach dir nicht zu viele Sorgen, Shakina! Genieß lieber deine Zeit hier! Du hast nun einen weißen Papa und ganz viele Mütter, die dich lieb haben!”
Shakina: „Ja, vielleicht hast du recht...”
(Sujeewa verlässt die Bühne. Shakina steht auf.)
Shakina: „Meine große Schwester Sujeewa hat recht... Ich sollte aufhören, ständig an meine Mutter zu denken. Ich werde zur Weihnachtsfeier ganz wunderbar tanzen und wenn sie nicht kommt, dann wird sie meinen großen Auftritt eben verpassen!“
(Shakina lächelt und verlässt die Bühne.)

Ich schaue mich verstohlen nach dem Publikum um, versuche in den Gesichtern zu lesen, wie diese Szene wohl angekommen ist. Betretenes Schweigen, ausweichende Blicke und vielleicht sogar ein trauriger Glanz in einigen Augen. Selbst wenn nur ein paar von ihnen zugehört und die Bedeutung dieser Szene verstanden haben, war es die Mühe wert. Hier und heute weiß keiner, wie oft Dishna und Sandiya diesen Dialog üben mussten, bis ich damit zufrieden war, wie sie die beiden früheren Mädchen Sujeewa und Shakina spielen. Das Publikum hat keine Ahnung, wie schwer es Sandiya gefallen ist, ihren Text auswendig zu lernen und ihn laut und deutlich vorzutragen. Letztendlich plagten sie die gleichen Sorgen wie das kleine Mädchen, das sie spielt, nur dass sie sich fragte, ob wohl ihr Papa zur Theateraufführung kommen wird. Ein Blick in die Menge verrät mir, dass er nicht da ist und trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb - hat Sandiya ihre Rolle großartig gespielt.

Mit großen Schildern wurde die Entstehung des Heims nachgestelltWie lange haben wir diesem Tag entgegen gefiebert! In den letzten Wochen war an nichts anderes mehr zu denken! Jeden Tag und meist auch noch jeden Abend probten wir wieder und wieder alle Szenen, feilten an Formulierungen, überlegten uns die passenden Hintergründe und Accessoires. Die Praktikantinnen Alice und Anna verbrachten den Großteil ihrer Zeit mit verschiedenen Kindern im Bastelzimmer, um Schilder und Requisiten zu basteln. Ich selbst überlegte mir regelmäßig abends im Bett noch weitere Szenen und Rollen, mit denen das Theaterstück ausgeschmückt werden konnte. Die Mädchen bastelten mit Hingabe und voller Hoffnung bereits vor Wochen die Einladungskarten für ihre Angehörigen. Jede Bewohnerin des Angels Home möchte ihren Familienmitgliedern zeigen, was in ihr steckt und was sie hier gelernt hat.

Hier wurde nachgestellt wie Frank im Jahr 2005 Tsunami Opfern halfUnd heute ist es nun endlich soweit; der große Tag der Aufführung ist gekommen. Zum Glück sehen die Mädchen hinter der Bühne nicht, wer alles im Publikum sitzt, denn nicht nur Sandiya und ihre Zwillingsschwester Vindiya werden vom eigenen Vater enttäuscht; auch einige andere Angehörige sind nicht da und es ist mir unerklärlich, wie man eine solche Einladung von der eigenen Tochter bzw. von einem liebenswürdigen Mädchen, das zur Familie gehört, ignorieren kann. Ich blicke in die Gesichter meiner Eltern, die zufällig an diesem besonderen Tag dabei sein können. Obwohl sie nichts vom singhalesischen Inhalt verstehen können, verfolgen sie interessiert das Geschehen auf der Bühne und in ihren Blicken zu mir lese ich Stolz. Stolz auf ihre Tochter, die dieses Theaterstück initiiert hat und deren Blick jedes Mädchen auf der Bühne sucht, um sich sicher zu fühlen. Ich danke dem Schicksal, dass ich Eltern habe, die sich für mich und mein Tun interessieren, die mich nicht durch Gleichgültigkeit enttäuschen oder mir das Gefühl geben, nicht wichtig genug zu sein. Einmal mehr spüre ich unendliches Mitgefühl mit unseren Mädels und ihren verkorksten Familienstrukturen, sodass es mir fast die Tränen aus den Augen drückt. Schauspieltalent Harisha durfte Frank spielenIch bin so stolz auf sie und ihre Leistungen auf der Bühne! Zum Glück sehen wenigstens einige Angehörige auch das, was ich sehe und so erfüllt es mich mit tiefer Zufriedenheit, Harishas Mutter begeistert Beifall klatschen zu sehen. Sie hat allen Grund stolz zu sein; Harisha darf Frank spielen und hat somit den größten Redeanteil im Schauspiel. Ihr Talent ist atemberaubend und es ist für sie das Größte, ihre Mutter daran teilhaben zu lassen.

Shashikala spielte unsere erste Matron Jacintha und Hiruni michAuch das Jugendamt ist gekommen und obwohl sie an der einen oder anderen Stelle im Stück ihr Fett wegkriegen, scheinen sie die Vorstellung zu genießen und sich zu amüsieren. Unsere ehemaligen Matrons Jacintha und Theekshani sind gerührt, sich selbst auf der Bühne wieder zu erkennen, gespielt von Mädchen, die sie einmal betreut haben. Auch ehemalige Bewohnerinnen sind gekommen und verfolgen aufmerksam das Geschehen. 12 Jahre Angels Home verpackt in 2,5 Stunden Schauspiel mit Höhen, Tiefen, Erfolgen und Rückschlägen. Die Kamera soll alles aufzeichnen, um die Mühen der letzten Wochen festzuhalten und unvergesslich zu machen. Erst später werde ich feststellen, dass die Einstellung falsch war und das Filmmaterial unbrauchbar ist...

Zwischendurch gab es zur Auflockerung ein paar TänzeIch bin glücklich in diesem Moment und froh, dass ich nicht aufgegeben habe, obwohl mir in den letzten Wochen mehr als einmal danach war. Doch heute ist alles gut und die Mädchen übertreffen mit ihrer Leistung sogar noch meine Erwartungen! Es gelingt uns, den Zuschauern einen Eindruck vom Leben im Kinderheim zu vermitteln, sie zum Lachen, zum Klatschen und auch zum Nachdenken zu animieren. Als am Ende alle Mädchen zum Schlussbild auf der Bühne stehen und strahlen, weiß ich, dass sich alles gelohnt hat. Einmal mehr haben wir gezeigt, dass im Angels Home Zusammenhalt großgeschrieben wird und dass man gemeinsam viel erreichen kann.

Mit stolzen Theater-Grüßen,
eure Julia.

Gruppenbild am Ende mit allen Schauspielerinnen sowie Frank und mir

  • Aufrufe: 2550