Kunterbunt statt rosarot
4 Wochen eingepackt in eine knallbunte Überraschungstüte – in meiner gewohnten Umgebung in Deutschland wäre diese Tüte wohl eher rosa ausgefallen. Die in ihr befindlichen Artikel wären von mir sorgfältig dahingehend ausgesucht,
dass sie nur aus den schönsten, einfachsten und kalkuliertesten Stunden bestehen und ich hätte sie schützend in weiche Watte eingehüllt. Schließlich konnte ich mir in Deutschland meine Situationen weitestgehend selbst zusammenstellen. Alles, was meinen Alltag ausmachte, war selbstbestimmt und sollte nur positive Energien zulassen. Ich hatte gelernt, negative Situationen in meiner optimistischen Welt schlichtweg nicht durchzulassen, schließlich lebte es sich schön in einer rosaroten Wolke. Die Tagesschau lässt sich wegschalten, wenn die Nachrichten zu negativ sind, denn sie haben keinen Platz in einem „die Welt ist wunderschön – Denken“.
In dem Lebensraum, in dem ich mich nun seit den letzten fünf Wochen befinde, werden nicht nur rosaroten Wundertüten vergeben. Stattdessen aber realistische Tüten, die aus den buntesten Farben bestehen. ? Das Leben hier lässt es nicht zu, dass man von Wölkchen zu Wölkchen tapst, sich ständig in den rosafarbenen Himmel hineinträumt und die grauen Wolken beiseiteschiebt oder gar ignoriert. Hier, auf dem singhalesischen Boden der Tatsachen spürt man auch mal den steinigeren Boden, man spürt die Unebenheiten unter den Füßen, man sieht auch graue Gewitterwolken aufziehen, Regen den Boden überfluten, aber man sieht auch, wie sich die Sonne jedes Mal wieder durchdrückt, die Pflanzen neu aufblühen, der Himmel wieder klar wird und sich schließlich in seinem strahlenden Blau zeigt. Denn nach dem Regen folgt die Sonne und wenn man Glück hat, gibt es einen Regenbogen. Begibt man sich auch mal in ein Gewitter und flüchtet nicht immerzu davor, so lernt man auch damit umzugehen. ?
Mit all diesen Metaphern soll ausgedrückt werden, wie verschiedenartig man den Alltag hier erleben und wahrnehmen kann. So gibt es die ruhigeren, pastellfarbenen Stunden, in diesen sitzt man mit ein paar wenigen Mädchen am Tisch und zeichnet Landschaftsbilder, schreibt gemeinsam Karten für die „godparents“ (Pateneltern), genießt in geselliger Runde die „tea-time“ (Tee mit Gebäck), oder sitzt auf dem Balkon und genießt die Stille am Morgen, während man spazierende Pfauen und fliegende Sittiche beobachtet.
Dann gibt es die graueren, unfairen Momente, an denen die Stimmung trauriger ist. Kinder weinen, weil ihre Eltern sie am Besuchstag versetzt haben, weil sie sich soeben von ihnen verabschieden mussten, weil sie sie vermissen oder weil sie Streit mit einer Freundin haben. Die dunklen Momente sind dann die, an denen die Stimmung aufgeheizt ist. Dann erlebt man auch mal Kinder, die aggressiver miteinander umgehen und man spürt die Verhältnisse, in denen sie eventuell aufgewachsen sind. In sozialen Einrichtungen „menschelt“ es und wo Liebe, Mühe und Arbeit herrscht, kommt Emotionalität und verbal forscheres Agieren von Kindern sowie von Erzieherinnen vor. Die hier vorliegende Mentalität, ist nicht unbedingt immer von einem zimperlichen Umgang miteinander geprägt.
Doch dank diesen verschiedenartig getönten Momenten, kann man die grün, pink, blau, rot und gelb leuchtenden Momente umso mehr wertschätzen. Die farbigen Momentaufnahmen sind nämlich entweder in der Überzahl oder im Ausmaß so viel stärker, dass sie die tristeren Farben überwiegen. Wenn beispielsweise morgens um 5 Uhr eine schlaftrunkene Omalmi aus dem Bett kriecht, tapsig durch das Schlafzimmer läuft, am Türrahmen bei mir stehenbleibt und mich einfach nur wortlos umarmt und dabei fast wieder einschläft, ist das ein kleiner, sanfter, roter Moment der Liebe. Wenn dich während des Tages die Mädels fast jedes einzelne Mal begrüßen, wenn Du an ihnen vorbeiläufst und du ein lächelndes „good morning, Nadine“ oder „good afternoon, teacher“ hörst, so leuchtet dieser Moment für mich in sonnig-freudigem gelb auf. Wenn die Mädels dich beinahe täglich fragen, ob sie denn heute wieder Englisch-Nachhilfe haben, bei einer zustimmenden Antwort verschmitzt in sich hinein grinsen oder ein „yeees“ jubeln ? und bei einer ablehnenden Antwort traurig reagieren, so ist der Moment von einem glücklichen, erfolgreichen grün gezeichnet. Wenn Du nach deinem freien Tag abends zurück ins „Angels Home“ kommst und dir die Mädels umarmend entgegenrennen, weil sie dein Fehlen bemerkt haben, sie dir Liebesbriefe schreiben, Geburtstagskarten basteln, Geburtstagssandkuchen backen, Freundschaftsbücher überreichen, händchenhaltend mit dir ins Meer rennen, dir Blüten in die Haare flechten, dir Küsschen auf die Wange drücken, deine Wange streicheln wenn du mal nicht so überglücklich wirkst, sie dich immer wieder zum Lachen bringen, dich umarmen, oder du auch mal von einer Erzieherin ein Bild gemalt bekommst, dann sind das für mich quietsch-lebendige Momente, die in den schönsten, buntesten Farben gezeichnet sind. ?
Für was würdest Du dich entscheiden? Für eine ungefähr vorhersehbare Tüte voller angenehmer, süßer, aber kaum aufregender Moment-Bonbons - oder für eine Tüte, die aus allen möglichen, verschiedenartigen, abwechslungsreichen Bonbons von bitter über scharf bis hin zu zuckersüß besteht? ?
Eure Nadine
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