Mathe für Fortgeschrittene
Es ist 15.00 Uhr, die Glocke klingelt, es ist Hausaufgabenzeit. Ich sitze im "Tailoring", dem Bastelraum, wo all die schönen Bastelutensilien verstaut sind. Mittlerweile ist das schon zu meinem kleinen eigenen Büro geworden oder auch wie Frank sagt: meine kleine Höhle. Doch hier habe ich Strom und Internet und kann ungestört arbeiten.
Ungestört zumindest am Vormittag, wenn die Mädels in der Schule sind. Nachmittags bekomme ich dann oft Besucherinnen vor meinem Fenster, die fröhlich meinen Namen rufen und mir zuwinken. Manchmal fragen sie auch höflich ob sie hereinkommen dürfen.
(Vorabbemerkung: Im Namen "Katrin" sind den Singhalesen wohl einfach zu viele Konsonanten, deswegen wurde mir kurzerhand der Spitzname Kati (gesprochen: Kaaaaaati) verpasst.)
Je nach Englischlevel klingt das dann so:
"Kaaati, excuse me, may I come in, please?"
"Kaaati, can I come in?"
"Kaaati, can I come?"
"Kaaati, me come?"
"Kaaati, come, please?"
"Kaaati, come?"
"Kaaati, please?"
Wie schon gesagt, es ist Hausaufgabenzeit und Nandika steht schon mit ihrem Schulbuch bewaffnet an der Tür und grinst mich an. "Kaati, how are you? Can you help me with Maths?" - der geheime Matheclub hat begonnen. (Wahrscheinlich ist er gar nicht geheim, denn bei den Mädels verbreitet sich jede noch so unnütze Information binnen wenigster Minuten wie ein Lauffeuer.) Zumindest wissen ein paar Mädchen, dass ich ihnen neben ihrer Englischhausaufgabe auch gerne mit Mathe weiterhelfe.
Eigentlich nichts Besonderes. Wäre da nicht der kleine Unterschied, dass die Muttersprache der Mädchen ja weder Deutsch noch Englisch ist und die Schulbücher natürlich auch auf Singhalesisch verfasst sind. Doch die große Gemeinsamkeit – das arabische Zahlensystem – verbindet eben.
Nandika schlägt ihr Buch auf. Neben vielen schnörkelig, kringeligen Schriftzeichen sehe ich auch wohlbekannte Matheaufgaben. "Gleichungen lösen" steht heute auf dem Programm. Nandika übersetzt so gut es geht auf Englisch was zu tun ist, den Rest reime ich mir durch die Aufgabenstellung zusammen.
Kein Problem – denke ich mir. Doch leider sind die Mädchen hier nicht auf dem gleichen Niveau wie etwa gleichaltrige deutsche Mädchen. So werden leichte Plus- und Minus- Aufgaben gerne noch mit den Fingern abgezählt (von den schwierigeren Aufgaben mit Zehnerübertritt mal ganz abgesehen). Für Multiplikation und Division wird gerne die "Einmaleins-Tabelle" aus dem Buch herangezogen. Selbst über die Aufgaben '3*1' oder '3*10' müssen die Mädchen viel zu lange nachdenken. Ich muss mit Erschrecken feststellen, dass den Kindern in der Schule die absoluten Basics nicht ausreichend fundiert vermittelt werden, der Mathestoff jedoch trotzdem immer weiter aufeinander aufbaut. Kein Wunder, an Nandikas Stelle würde ich mir hier auch sehr schwer tun.
Hier muss ich kreativ werden. Wir müssen weg von "Mathe, dem Fach mit den vielen Zahlen auf dem Papier" hin zu "Mathe im alltäglichen Gebrauch". Ich versuche die Aufgaben mit Gegenständen darzustellen – ab sofort rechnen wir nicht mehr nur mit Zahlen, sondern wir rechnen mit Stiften, Rupees, Wasserflaschen (besonders bei Brüchen!) und was sich eben noch so Nützliches finden lässt.
Die ersten Gleichungen sind aufgelöst. Ein kleiner Zwischenerfolg.
Oh schön, negative Zahlen, denke ich mir, und zeichne erst einmal einen Zahlenstrahl. Denn bei negativen Stiften hört dann auch meine Vorstellungskraft auf und das möchte ich dann auch den Mädchen nicht antun.
Doch dann folgen ganz schnell Bruchterme in den Aufgaben. Wahnsinn, wie schnell hier der Stoff behandelt wird. Innerhalb von einer Hausaufgabe werden quasi alle Disziplinen in die Gleichungen integriert. Und das ohne jeweils einzelnen Hefteintrag im Unterricht, so wie ich es aus meiner Schulzeit kenne. Jetzt wird mir klar, dass den Mädchen sehr viel Zeit zum Verstehen und Üben fehlt.
Langsam komme ich an meine Grenzen, die einzelnen Mathegesetze auf Englisch so zu erklären, sodass die Mädchen dies dann auch verstehen. Ich für meinen Teil wüsste jetzt gerne die singhalesischen Begriffe für "Zähler", "Nenner", "Erweitern", "Kürzen", "Kehrbruch", oder aber "die Variable auf einer Seite eliminieren". Aber auch ohne all das bewältigen Nandika und ich die Aufgaben Schritt für Schritt. Manchmal mit einem verwirrten Gesichtsausdruck auf ihrer Seite, manchmal mit einem verwirrten Gesichtsausdruck von mir, ein paar verwirrenden Verständigungsproblemen, aber am Ende mit einem (richtigen!) Ergebnis im Heft.
Nach einer Stunde klingelt die Glocke: Teatime. Leider sind noch nicht alle Aufgaben geschafft. "Nighttime?", fragt Nandika. So sitzen wir nach dem Abendessen nochmal ein Weilchen, bis wir uns beide aus Müdigkeit einig sind – den Rest müssen wir auf Morgen verschieben.
Ich muss an meine kleine Schwester denken – wir haben schon oft zusammen gelernt. Sie weiß auch, dass ich von Natur aus nicht die geduldigste Person bin, vor allem wenn es darum geht dieselben Regen wieder und wieder zu erklären. Und ich muss daran denken, wie gut ich es verstanden hätte, wenn mir mein Lehrer das Auflösen von Gleichungen oder Rechnen mit Brüchen auf Englisch erklärt hätte. Und während Nandika das Auflösen von Gleichungen lernt, arbeite ich an meiner Geduld.
Ob ich ihr wirklich alles so vermitteln konnte, sodass sie das mathematische Prinzip der Gleichungen wirklich verstanden hat, das weiß ich nicht. Zumindest hat sie das Schema zum Lösen der Gleichungen aus der Hausaufgabe verstanden. Jedenfalls steht sie am nächsten Tag, 15.00 Uhr, mit einem breiten Grinsen vor der Tür: "Look, I have done all right" – Die roten Haken des Lehrers blitzen im Heft und strahlen mit Nandika um die Wette. Das war die Mühe am Vortag auf jeden Fall Wert und die nächste Session des (geheimen) Matheclubs hat begonnen.
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