Alles
,,Alles’’ erschien mir als das passende Wort für meinen Bericht.
Als ich gekommen bin wackelte Salani’s unterer, linker Schneidezahn. Sie strahlte mir stolz ins Gesicht und fummelte an ihrem halblosen Zahn herum und konnte es kaum erwarten, das Stückchen Kindheit aus sich herauszuknacken. Als ich gegangen bin, war der neue Zahn schon fast so groß gewachsen, wie alle anderen und die Euphorie über den Milchzahnverlust war schon längst Geschichte. Ich hätte nicht gedacht, dass man in so einer relativ kurzen Zeit so viele Kinder so gut kennenlernt und ihre Vorlieben und Schwächen genau kennt. Je näher man den Kindern kommt, desto schwieriger ist es, loszulassen. Ich hatte ja noch knapp drei Wochen Abenteuer, Reisen und Leichtigkeit vor mir, bevor mir der Unialltag den Boden unter den Füßen wegziehen konnte. Da kann man loslassen. Vorerst. Jetzt sitze ich wieder in meiner, alten, neuen und doch so surrealen Welt, die von außen grau zu sein scheint, aber trotzdem geborgen und voller neuen Gewohnheiten ist.
Ich lasse das letzte halbe Jahr an mir vorbeirauschen und versuche, mir nur die schlechten Erfahrungen ins Gedächtnis zu rufen, damit die Sehnsucht nicht ganz so groß ist.
Viele haben mich nach meiner Rückkehr natürlich gefragt wie es war. Naja, wie war es denn? Wie soll man denn sechs Monate voller Höhen, Tiefen, kulturelle Unverständnis, Hochmut, Abenteuer und einen Haufen Arbeit in ein Adjektiv quetschen!? ,,Alles’’ erschien mir als das passende Wort. Auch, wenn es kein Adjektiv ist. Es war alles. Die Mädels waren alles für mich, die Arbeit und das Leben im Angels Home. Auch Indien war alles für mich. Man konnte alles sein und (fast) alles machen. Kind sein und die guten Seiten des Lebens genießen. Es sind Erlebnisse, die man vielleicht nicht beschreiben kann, die man aber auch nicht unbedingt teilen muss. Es sind Erlebnisse, die tief in mir gespeichert sind.
Ich habe durch die Angel Stories versucht, diese kleine, heile, wunderbare Welt der Engel so real wie möglich darzustellen. Und ich habe gemerkt, man muss diese Zuckerschnuten und Gören erlebt haben, auch wenn die Videos ein super Beweismaterial für ihr ausgelassenes Kindsein sind. Ständig flattern mir die Bilder auf den Desktop, wie ich stundenlang im Computerraum saß und Achini reingehuscht kam und mich vom Videoschneiden abzuhalten versuchte. Mit Erfolg natürlich, wobei sie mir eine große Hilfe bei der Musikauswahl war. Der immerträumende Gute-Laune-Bär hat einen besonders großen Drang nach Fotos, um nicht zu sagen, eine Fotoverrückt. Kein Wunder, dass wir uns so gut verstanden haben.
Natürlich sind mir die anderen 50 Strahlefrauen auch noch im Gedächtnis, und ich hoffe, dass sie sich auch noch an den verrückten Lockenkopf erinnern werden. Den Namen,,Crazy Lizzy’’ habe ich nicht losbekommen. Auch, wenn es nicht viel Bildmaterial von mir gibt, da die Kamerafrau sehr selten vor der Linse zu sehen war.
Noch immer höre ich die Glocke klingeln, die mich sowohl um fünf Uhr morgens aus dem Schlaf riss, zum Essen aufrief, oder die ganze Truppe auf einen Haufen trommelte. Ich habe immer noch den Duft von verbrannten Kokosnussschalen in der Nase, die sanften Gesänge zarter Mädchenstimmen im Ohr. Und ich fühle auch noch immer den feinen Sand unter meinen Füßen und die Meeresluft auf meiner Haut. Und vor allem spüre ich noch 50 Kinder an mein Herz klopfen, mit oder ohne Milchzähne.
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