In einer anderen Welt
In den letzten zweieinhalb Monaten im Angels Home wurde mir immer wieder vor Augen geführt, dass ich praktisch in zwei verschiedenen Welten lebte: in einer im Angels Home mit den Kindern, die teilweise so schlimme und bewegende Vergangenheiten haben, wie man sie sich in Deutschland gar nicht vorstellen kann, in einer anderen mit meiner Familie und meinen Freunden in Deutschland, mit denen ich dank Internet und Handy regelmäßigen Kontakt hatte und auf dem neuesten Stand gehalten wurde.
Doch nicht nur zwischen Sri Lanka und Deutschland existieren so enorme Unterschiede, selbst innerhalb des kleinen Sri Lankas kann man diese finden. Denn in den letzten beiden Wochen habe ich neben dem Leben im Kinderheim noch eine andere Seite Sri Lankas kennengelernt: die touristische.
Seien es der türkisblaue Ozean in Trincomalee, die beeindruckende historische Felsenfestung Sigiriyas, die atemberaubenden Wasserfälle bei Nuwara Eliya oder die wunderschönen Strände in Mirissa – Sri Lanka hat für Touristen wirklich einiges zu bieten.
Doch so unterschiedlich die Landschaften dieser kleinen Insel im indischen Ozean sind, so unterschiedlich sind auch ihre Bewohner. So werden nicht in allen Regionen Menschen mit weißer Hautfarbe als dermaßen normal angesehen, wie sie es für die Mädchen im Angels Home sind. Eher werden sie als gute Einnahmequelle betrachtet und es wird alles dafür getan, ihnen das Geld aus der Tasche zu ziehen.
Da zählt es nicht, dass man doch eigentlich noch Studentin ist und wirklich kein großes Geld zum Ausgeben hat. Auch wenn man im Vergleich zu großen Teilen der Bevölkerung ja nun einmal wohlhabend ist – aber das ist wohl eine andere Geschichte … Neben diesen „Dampfplauderern und Abzockern“ in den touristischen Gebieten werden mir aber auch die positiven Begegnungen mit den einheimischen Menschen im Gedächtnis bleiben: seien es der katholische Pastor, der während der zweieinhalbstündigen Fahrt von Kandy nach Nuwara Eliya die ganze Zeit unsere Reiserucksäcke festhielt oder der hilfsbereite Mann am Bahnhof in Colombo, der uns eindringlich davor warnte, während des Wartens oder der Zugfahrt einzuschlafen und unser Gepäck aus den Augen zu lassen.
In dieser touristischen Welt mit Klimaanlagen, der Möglichkeit, auch etwas anderes als Reis und Curry zu essen, und keinen kleinen Mädchen, die dich als Weiße wie selbstverständlich in ihren Alltag integrieren, schien mir die Welt des Angels Homes schon wieder extrem weit entfernt zu sein. Denn die Eindrücke waren enorm; so enorm, dass das Angels Home und die Mädchen von heute auf morgen unbewusst in den Hintergrund rückten oder besser gesagt, von neuen Eindrücken überlagert wurden.
Das soll nicht heißen, dass ich die Mädchen bereits vergessen hätte! Ganz im Gegenteil.
Oft schaute ich während der Rundreise auf die Uhr und fragte mich, was die Kinder gerade machten und wie es ihnen wohl ging. Das Leben und Arbeiten im Angels Home schien nur so erschreckend schnell zu einer Erinnerung zu verblassen – was wohl auch ein Zeichen von unbewusster Verdrängung ist. Denn nicht nur viele der Kinder scheinen gut im Verdrängen zu sein, sondern auch wir Erwachsenen. Doch während die Kinder ihre eigene Vergangenheit versuchen zu verdrängen, um ihre Gegenwart genießen zu können, verdrängt unsereins Aspekte eben dieser Gegenwart – was meiner Meinung nach auch vollkommen normal und natürlich ist. Denn man kann einfach nicht die ganze Zeit darüber nachdenken, wie schlecht es anderen Menschen auf dieser Welt doch geht und wie groß die Not in vielen Gebieten dieser Erde ist. Wie sollte man dann noch an etwas anderes denken? Da bilden Julia und Frank sicherlich eine große Ausnahme, da sie wirklich von sich behaupten können, dass sie jeden Tag aufs Neue versuchen, die Welt ein kleines bisschen besser zu machen …
Ich hoffe, dass mir die Erlebnisse und Erfahrungen im Angels Home dabei helfen werden, eben dieser Verdrängung entgegenzuwirken und mich bewusst damit zu befassen, dass es nicht allen Menschen auf dieser Welt so gut geht wie uns in Deutschland.
Denn es sind unzählige Momente, die ich mein Leben lang nicht mehr vergessen werde, die mich bewegt, mich nachdenklich oder traurig gemacht haben, aber natürlich auch Momente, die einfach nur schön oder lustig waren.
Ich werde nie vergessen, wie …
… Vindiya eine Stunde lang auf meinem Schoß saß und der kleine Körper von heftigen Schluchzern geschüttelt wurde, weil sie und Sandiya in den Ferien nicht nach Hause konnten.
… Dinesha und Hasini sich bei einer Folge „Tom & Jerry“ vor Lachen wegschmissen.
… Sandiya in der Englisch-Nachhilfe aufstand und mich voller Mitleid umarmte, nachdem ich etwas lauter werden musste, da die Kinder so aufgedreht waren.
… Supipi bereits beim ersten Ton eines Liedes begeistert anfing zu tanzen.
… begeistert und enthusiastisch Padmini alle und jeden nach Läusen durchsuchte.
… Supipi mich vor lauter Wut auf den Arm schlug, weil sie nicht am ersten möglichen Ferientag von ihren Angehörigen abgeholt wurde.
… mutig viele der Mädchen waren, als sie sich bei unserem „Angels Home’s Next Superstar“-Abend alleine vor die Jury und das Publikum stellten und ein Lied sangen oder einen Tanz aufführten.
… Subani einen jeden Tag mit „Guten Morgen“ und „Alles gut?“ begrüßte.
… Shashikala im Tempel dafür sorgte, dass wir – trotz mehrmaligem Betonen, dass wir nicht mehr hungrig seien – noch Reis und Curry, ein Eis und eine Banane zu essen bekamen.
… wie sich die Nachhilfegruppe der ganz Kleinen immer unter an der Treppe versammelte und in Reih und Glied auf mich wartete.
… sehr sich alle Mädchen – ob älter oder jünger – über Zuwendung und Aufmerksamkeit freuten.
… rührend sich die älteren Mädchen um die ihnen zugeteilten jüngeren kümmerten.
… Wathsala ihrer Mutter am Besuchertag auf die Frage „Willst du mit uns nach Hause kommen?“ eiskalt mit „Nein, mir gefällt es hier!“ antwortete.
… Wathsala aber dennoch weinend im Bett lag, weil sie in den Ferien zunächst nicht nach Hause durfte und innerhalb von Sekunden von den anderen Mädchen umringt wurde, die sie liebevoll trösteten.
Ich könnte wohl noch einige dieser Momente aufzählen, aber ich möchte es bei diesen belassen.
Ich kann einfach nur sagen, dass auch ich dankbar dafür bin, dass man als Mensch in der Lage dazu zu sein scheint, die Not und das Elend auf der Welt zu verdrängen – wenigstens vorübergehend. Doch, wenn ich an die Mädchen im Angels Home denke, dann weiß ich, dass es ihnen gut geht, dass sie liebevoll umsorgt werden, dass sie bestmöglich gefördert werden und dass sie einfach alle Chancen bekommen, etwas aus ihrer Zukunft zu machen.
Danke dafür, dass ich zweieinhalb Monate dabei helfen durfte!
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